Anastasia Khoroshilova, aus der Serie "Die Übrigen" (Ausschnitt), 2014, © Anastasia Khoroshilova
Beate Passow, Monkey Business (Budapest) (Ausschnitt), Tapisserie, Fotocollage, 2020 © Beate Passow, VG Bild-Kunst
Herlinde Koelbl, aus der Serie "Schlafzimmer" (Ausschnitt), 2002 © Herlinde Koelbl

European TrailsEuropäische Fotokünstlerinnen der Gegenwart

09.03.-27.11.2022 im H2 – Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast

Eine Ausstellung europäischer Fotografinnen und Künstlerinnen, die mit Fotografie arbeiten.

Ausstellung behandelt zentrale Fragen um Herkunft, Erinnerung und Identität
Dabei geht es zentral um Fragen von Herkunft, Erinnerung und Identität. Die persönliche eigene Geschichte und deren Überlagerung und künstlerische Transzendierung in die jeweils aktuellen sozialen und politischen Zustände werden zum Spiegel einer wesentlichen Auseinandersetzung mit Lebensbedingungen und Machtverhältnissen zwischen Individuen, wie im gesellschaftlichen Bereich insgesamt.

Maßgebliche Beiträge einer sich in und über Europa vollziehender Debatte
In starken fotografischen Bildern und installativen Arbeiten stellt die Ausstellung Werke herausragender zeitgenössischer Künstlerinnen vor, deren Konzeptionen maßgebliche Beiträge einer in und über Europa sich vollziehenden Debatte der Gegenwart darstellen. 

Die Konzeption der Ausstellung und Auswahl aller Arbeiten erfolgte lange vor dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, welcher neue, dramatische Entwicklungen und Fluchtbewegungen in Europa in Gang gesetzt hat. Dass der Ausstellungszusammenhang nun auch vor diesem Horizont erfahren wird, war nicht vorherzusehen.    

Künstlerinnen:
Letizia Battaglia ∙ Johanna Diehl ∙ Kathrin Ganser ∙ Andrea Geyer ∙ Candida Höfer ∙ Magdalena Jetelová ∙ Anastasia Khoroshilova ∙ Herlinde Koelbl ∙ Youqine Lefèvre ∙ Tina Modotti ∙ Loredana Nemes ∙ Beate Passow ∙ Leta Peer ∙ Joanna Piotrowska ∙ Katharina Sieverding

Kurator: Thomas Elsen



Biografien der Künstlerinnen

LETIZIA BATTAGLIA

Letizia Battaglia (*1935 Palermo) wuchs bis zum achten Lebensjahr in Triest auf und kehrte erst dann mit den Eltern nach Palermo zurück. Die Rückkehr war ein Kulturschock, der Vater sperrte sie nachmittags nach der Klosterschule zuhause ein, allein im Freien spielen durfte sie nicht. Auch um zuhause auszubrechen heiratet sie bereits mit 16 Jahren, wird Mutter dreier Töchter, füllt die traditionelle Rolle der Hausfrau aus und erleidet schließlich einen Herzinfarkt. Es folgt eine radikale Wende in ihrem Leben, Battaglia verlässt Mann und Familie und geht nach Mailand, wo sie als Kulturkorrespondentin für die linke ‚l’Ora‘ arbeitet. Dort kommt sie zum Fotografieren und kehrt als Chef-Fotografin von l’Ora erneut nach Palermo zurück. Viele Jahre hindurch fotografiert sie hier die internen Kriege und Straßenmorde der Mafia und das von ihnen wesentlich bedingte Leben der Bewohner der Stadt und ihrer Umgebung. Die beiden hier gezeigten Fotografien stammen aus dem Jahr 1986 und sind typisch für Battaglias immer dem Moment verpflichteten, direkten, und zugleich zeitlos anmutenden erzählerischen Stil.        

JOHANNA DIEHL

In ihrem fotografischen Projekt Ukraine Series dokumentiert Johanna Diehl (*1977 Hamburg) die vielfältigen Formen von Gewalt, Zerstörung und Vertreibung der dort ehemals lebenden jüdischen Gemeinden. 2013 reiste sie in die Ukraine und fotografierte verfallene Synagogen in allen Teilen des Landes. Viele wurden bereits während der deutschen Besatzung zerstört, andere unter sowjetischer Herrschaft zweckentfremdet: In Verkaufsläden, Frisiersalons, Turnhallen, Fabriken, Clubs. Nicht nutzbare Gebäude verfielen schlicht und sind heute, sofern nicht durch den derzeitigen russischen Krieg gegen die Ukraine noch weiter zerstört, nur noch als monumentale Ruinen sichtbar. In höchst eindrucksvollen Fotografien zeigt Johanna Diehl objektiv und atmosphärisch nah zugleich die Spuren der Auslöschung des jüdischen Lebens und einer ganzen Kultur, deren spirituelle Zentren verschwanden oder ohne Rücksicht auf ihre ursprüngliche Bedeutung funktionalistisch banalisiert wurden.  

KATHRIN GANSER

Kathrin Ganser (*1977 Kempten) ist Künstlerin und Autorin im intermedialen Feld der künstlerischen Fotografie, Installation und Medienkunst. Raumbilder und Bildräume sind ein formal wie inhaltlich grundsätzliches Arbeitsfeld, in dem Ganser ihre immer von theoretischen Konzepten ausgehende Bildsprache entwickelt. Dabei spielen das Internet und dessen komplexe Informations- wie Fehlinformationsstrukturen (z.B. durch defekte Dateien in Diensten wie Google Maps oder Google Earth) eine wichtige Rolle. Für EUROPEAN TRAILS hat Kathrin Ganser eine neue, mehrteilige Installation entworfen, in der eine Videoaufzeichnung des Seenotrettungsprojekts „Seawatch“ eigenen, auf Fundstücken aus dem Internet beruhenden Bildern, sowie der Fotografie „passing“ gegenübersteht. Die Abmessungen der Fotografie korrespondieren mit denjenigen des gegenüber positionierten Monitors. Die Installation insgesamt bezieht sich auf die Thematik der Migration nach Europa. Verortung wie Raumauflösung, Fragilität, Nähe und Ferne werden hier in eine eigene ästhetische Form gebracht und als Metapher für ein bewegtes, um Zusammenhalt ringendes, wie immer wieder auseinanderdriftendes Europa zur Diskussion gestellt.

ANDREA GEYER

In ihrer 2019 entstandenen Installation Feeding the Ghosts setzt sich Andrea Geyer (*1971 Freiburg) mit persönlichen Verlusterfahrungen auseinander, die sie künstlerisch mit denjenigen der belgischen Filmemacherin Chantal Akerman überblendet. Akerman, Tochter polnischer Holocaust-Überlebender und frühe Protagonistin des feministischen Kinos, trug im Oktober 2001 ihre einstündige Lesung A Family in Brussels in der Dia Art Foundation vor, der Geyer beiwohnte. In Feeding the Ghosts nimmt sie darauf direkten Bezug. In einem 60minütigen Loop ist die Off-Stimme Geyers zu hören, die einen Text vorträgt, der auf Akermans Lesung beruht. Indem sie Akermans Reflexion der langfristigen Auswirkungen des Holocausts auf deren Familie eigenen Verlusterfahrungen gegenüberstellt und miteinander verwebt, koexistieren Vergangenheit und Gegenwart. Nicht nur visuell, sondern durch die physische Anwesenheit der Betrachter:innen ganz real reichern diese Geyers Installation an: Indem sich unsere Umrisse im Scheinwerferlicht der Projektoren durch die weißen, sich überlagernden Flächen der entleerten Bilder bewegen, dynamisieren sie diese und setzen sie in ein neues, bewegtes Gesamtbild fort, das Geschichte nicht eindimensional und bloß retrospektiv erfasst. „Wir können die Geister nicht ausladen“, sagt Geyer. Vergangenheit zeigt sich in ihrem künstlerischen Entwurf als stets anwesender Bestandteil der Gegenwart und umgekehrt.  

CANDIDA HÖFER

Ihre frühe Fotoserie Türken in Deutschland schuf Candida Höfer (*1944 Eberswalde) zwischen 1972/73 und 1979 in Köln, Düsseldorf, Ratingen und Hamburg. Während in Höfers späteren Fotografien die Abwesenheit des Menschen zugunsten der Darstellung von Innenräumen zunehmend an Bedeutung gewinnt (seit den 1980er Jahren entstanden formal strenge Kompositionen von Bibliotheken, Museen oder Opernhäusern), porträtiert Höfer in der Serie Türken in Deutschland beobachtete Veränderungen im Stadtbild aufgrund zunehmender Migration. Obwohl auch hier bereits ein Interesse an den Interieurs von Ladenlokalen, Metzgereien, privaten Wohnräumen oder Cafés erkennbar ist, sind viele Aufnahmen porträthafter Natur und rücken den Menschen in den Mittelpunkt. Die Lebens- und Alltagskultur der fotografierten Personen, Paare, Gruppen oder Familien spiegelt sich beim Einkauf, im Café oder bei Gesprächen an der Straßenecke. Wenngleich Frisuren, Mode, Werbetafeln und allgemein das Straßenbild die Entstehungszeit der Aufnahmen verraten, belegen die atmosphärischen Qualitäten der Bilder eine fast selbstverständliche Übertragbarkeit ins Heute. 

MAGDALENA JETELOVÁ

Ein seit Langem zentrales Thema im Werk der Künstlerin vermittelt das 1992 entstandene Iceland Project von Magdalena Jetelová (*1946 Semily): Die Auseinandersetzung mit der Idee und den Realitäten von Grenzen. Jetelová, die als Studentin und junge Künstlerin den Prager Frühling hautnah miterlebte, markiert und visualisiert darin anhand eines Laserstrahls die geologische Nahtstelle zwischen Europa und Amerika. Dabei sind ihre großformatigen Schwarzweiß-Fotografien nicht nur ästhetische Dokumentationen einer unmittelbaren Interaktion mit der Natur. Vor allem stellen sie ästhetische Metaphern dar. Indem Jetelová per Laser die tief in die Landschaft hineinragenden Linien als gedachte Pfade und Wegmarkierungen setzt, entstehen Bilder imaginärer Grenzverläufe, die nicht natürlich gewachsen sind. Das Entstehen von Grenzen als Resultat politischer Entwicklungen impliziert mit dem gleichzeitigen Nachdenken über deren Sinn und Funktion auch immer die Reflexion über Möglichkeiten ihrer Überwindung: Wo genau Europa anfängt, und wo es endet, scheint in Jetelovás Island-Fotografien so wenig unverrückbar wie das Ruhighalten der Natur.        

ANASTASIA KHOROSHILOVA

Seit vielen Jahren porträtiert Anastasia Khoroshilova (*1978 Moskau) mit großer Sensibilität, genauer Beobachtung und behutsamer Hartnäckigkeit Menschen und ihre Geschichten. In ihren Bildserien spiegelt sich auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder ein existenzielles Nachdenken über die eigene Herkunft in der Verwobenheit zwischen persönlicher Geschichte, emotionaler Nähe und einem objektivierenden Blick ‚von außen‘. Für ihr Projekt Die Übrigen (2014) spürte sie gemeinsam mit der Autorin Annabel von Gemmingen Erinnerungen und Erinnernden in Lettland nach, wo Zeugnisse lettischer, deutscher, russischer und jüdischer Bewohner aus einer bewegten Geschichte in die Gegenwart hineinragen. Khoroshilova kehrte an besuchte Plätze ihrer Kindheit zurück, hielt Landschaften, Orte, Gedächtnisfeiern und Begegnungen mit Veteranen fest, um all dies in einer eindrucksvollen Bildserie, eingebettet in ein fotografisch-literarisches Buchprojekt zusammen mit ihrer Co-Autorin zu dokumentieren. Klassische Porträts von Personen stehen in diesen Fotografien nicht im Vordergrund. Dafür erscheinen umso intensiver Räume, Interieurs, menschenleere Szenerien als beredte Leerstellen der Erinnerung. Oder die vernarbte Schusswunde eines Mannes, wohl eines Soldaten, in Nahaufnahme. Unsere verwundbar-verwundete Freiheit haben wir direkt vor Augen.

HERLINDE KOELBL

Herlinde Koelbl (*1939 Lindau), zählt zu den wichtigsten Porträtfotografinnen der Gegenwart. Ein tiefgreifendes Interesse am Menschen, den sie niemals nur als ‚Modell‘, sondern als ein immer gleichberechtigtes Gegenüber auffasst, spiegelt sich durchgehend in ihrer Arbeit.  Mit künstlerischer Neugier, großem Einfühlungsvermögen und der ihr eigenen Mischung aus Beharrlichkeit und äußerer Zurückhaltung hat Herlinde Koelbl eindrucksvolle Bilder von Menschen geschaffen, deren authentisch-natürliche Charaktere sie unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bekanntheitsgrad mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit abbildet. In Langzeitprojekten wie ‚Spuren der Macht‘ hat Koelbl Personen und deren unmerkliche Veränderung über Jahrzehnte hinweg fotografisch begleitet. Internationale Aufmerksamkeit erregte sie erst jüngst wieder mit ihrem Projekt ‚Faszination Wissenschaft‘, in dem sie Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger weltweit porträtierte. Ihre Bildmonografie ‚Angela Merkel. Porträts 1991-2021‘ ist erst vor Kurzem erschienen. In Koelbls Werk haben die Bilder von Einzelgeschichten nichts Voyeuristisches, vordergründige Neugier Vermittelndes. Sie sind von einer entspannten und zugleich konzentrierten Nähe gekennzeichnet, die zwischen Fotografin und Modell stets mitschwingt. Und von einem oft heiteren Humor getragen, der die fotografierten Personen stets als Persönlichkeiten würdigt. 

YOUQINE LEFÈVRE

In Far From Home setzt sich die Belgierin Youqine Lefèvre (*1993) mit Intimität, Kindheit, Erinnerung im emotionalen Spannungsfeld familiärer Bindungen auseinander. Schwächen und Verletzlichkeit spielen dabei eine zentrale Rolle. Das Zögerliche, Unsichere, Ängstliche als Kennzeichen von Blößen, die sich niemand geben will, sind beobachtete Phänomene, die ihre mit großer Sensibilität aufgenommenen Fotografien von Kindern und Naturausschnitten zeigen. Die eigene Geschichte ihrer Adoption, das Ausgesetzt- und Ausgeliefertsein, wie Schutzbedürftigkeit werden als menschliche Empfindungen angesehen, die in unserer lebenslangen Sozialisation als ein anerzogenes Zeigen von Stärke meist nur übertüncht, oberflächlich vergessen, existenziell jedoch nie wirklich aufgelöst werden.     

TINA MODOTTI

Tina Modotti (1896 Udine – 1942 Mexico City), eine der stilprägenden Fotografinnen des frühen 20. Jahrhunderts, war eine dauerhaft Suchende, deren lebenslange Migration sich in einem großen Spannungsbogen zwischen selbst gewähltem Lebensentwurf, sozialpolitischem Engagement und den harten wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit bewegte. Sie ist ein frühes Beispiel einer Europäerin, die, wie viele ihrer Landsleute – in dieser Zeit gerade aus dem italienischen Friaul – aus existenzieller Not ihre Heimat verließ. Wohl auch deshalb spiegelt sich In ihren Fotografien ihr großes Interesse vor allem am sozialen Kontext Mexikos wider, jenes Landes, in dem die Künstlerin in den 1920er Jahren lebte, und in dem sie nach zwischenzeitlicher Rückkehr nach Europa von 1939 bis 1942 ihre letzten Jahre verbrachte. Modottis Leben verlief deutlich zerrissener, als es die ausschließlich auf die glamourösen Phasen ihrer Biografie projizierten Schlaglichter oft und noch immer vorgeben. Ihre Geschichte ist die einer Getriebenen, einer Ein- und Auswanderin mit scheinbar kaum versiegender kreativer Energie. Modottis berühmt gewordene Fotografien sind erst im Kontext ihrer bewegten Biografie gänzlich erfassbar.

LOREDANA NEMES

In der hier präsentierten Werkauswahl aus Beyond von Loredana Nemes (*1972 Sibiu) hat die Künstlerin der fremden Welt muslimischer Männer nachgespürt. Die zentrale Aufnahme ihres siebenteiligen Arrangements zeigt die von außen aufgenommene Fensterfront des Café Esto in Berlin Neukölln, eines Männercafés, dessen Zusammenkünfte im Innern sich Außenstehenden kaum erschließen. Behutsam und präzise nahm Nemes durch das milchige Glas der Scheiben hier und an anderen Caféhäusern 9 Monate lang „verschleierte Männer“ aus der Distanz auf. Erst dann begann sie, auf sie zuzugehen und sie bitten, an die Scheiben zu treten. Die Männer verkörpern für die Fotografin, wie sie selbst dies treffend formulierte, „vielleicht auch Fremdheit an sich“. Sie alle haben Namen, aber man erkennt sie dennoch nicht, erahnt mehr eine geschützte Atmosphäre, die geheimnisvolle Anteilnahme in uns stärker weckt als bloße Neugier. Das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Vertrauten als ein permanent bewegtes ‚Dazwischen‘ überträgt sich mit gespannter Ruhe auf die Betrachter:innen. Wir fühlen uns weit weg, und vielleicht gerade deshalb so magisch angezogen.  

BEATE PASSOW

Beate Passow (*1945 Stadtoldendorf) ist eine der wichtigen deutschen politischen Künstlerinnen. In zahlreichen Fotoprojekten hat die Gabriele-Münter-Preisträgerin immer wieder Stellung zu aktuellen zeitgeschichtlichen Themen, insbesondere zur deutschen Geschichte und Vergangenheit im 20. Jahrhundert bezogen. Der europäische Kontext geht in diese Auseinandersetzung in den hier präsentierten Tapisserien ihres Monkey-Business-Projekts auf eindrucksvolle Weise ein. Passow hat eigene Fotocollagen als Jaquard-Webereien ausgeführt, und die Flüchtlingssituation und den politischen Umgang damit in Budapest genauso bissig hinterfragt wie die Gelbwesten-Demonstrationen und gewalttätige Proteste in Paris. In einer dritten Arbeit wird ein zerstörtes Postamt in Tschernobyl nach der dortigen Reaktor-Katastrophe ins Visier genommen – all dies als Symbole menschlicher, sozialer, politischer Gewalt. In ihrer Gesamtheit sind die drei Arbeiten Beate Passows als eine monumentale Rauminstallation zu sehen, die in dieser Konstellation im Raum freihängend erstmalig in einer Ausstellung gezeigt wird. Vor- und Rückseite, Positiv und Negativ, Klartext und Entzifferungsbedürftigkeit sind darin für die sich bewegenden Betrachtenden unmittelbar erfahrbar.

LETA PEER

Ihr ganzes künstlerisches Leben hindurch konfrontierte die Schweizer Malerin und Fotokünstlerin Leta Peer (1964 Winterthur – 2012 Binningen) gemalte Bilder Berglandschaften ihrer Heimat mit fremden Kontexten und Umgebungen. Die akademisch ausgebildete Malerin baute ihre in bewusst klassischer Manier geschaffenen Landschaftsbilder in fotografische Kompositionen ein, die nichtmuseale Zusammenhänge zeigen. So klebte sie kleine, bierdeckelgroße Tondi in die Central Station in New York, um zu sehen, ob und wie diese von Passanten wahrgenommen würden. Andere Bildserien lieh sie an Freunde oder Unbekannte zur Verwendung in deren persönlichen Umgebungen, Büros oder Wohnungen aus, und fotografierte sie, ohne selbst Einfluss auf die jeweiligen Standorte und Positionierungen zu nehmen. In ihrer 2005 entstandenen To inhabit a Place-Serie sind gemalte Kompositionen des Schweizer Engadin, der Heimat der Künstlerin, in der sanierungsbedingten Baustelle des Augsburger Schaezlerpalais zu sehen – so fremd wie faszinierend. Lösung von und Verwurzelung mit der eigenen Herkunft als ein permanent sich verändernder Prozess aus Erinnerung, Entwicklung und dem Bewusstsein des dauerhaft Provisorischen werden in ihren fotografischen Kompositionen symbolhaft visualisiert.  

JOANNA PIOTROWSKA

Joanna Piotrowska (*1985 Polen) setzt menschliche Beziehungen, und mit ihnen Gesten von Fürsorge, Selbstschutz und Kontrolle ins Bild. In ihren Schwarzweiß-Fotografien und Performance-Filmen inszeniert die Künstlerin ihre Akteur:innen formal wie inhaltlich. Auch in ihrer shelters-Serie lässt sie sie Körperhaltungen einnehmen, welche die Beziehung zueinander und zum Raum als ungewiss, teils Unbehagen auslösend, manchmal auch als von beklemmendem Humor begleitet erscheinen lässt. In Piotrowskas fotografischen Kompositionen und Bildanordnungen werden Vorstellungen von Einsamkeit und Gewalt geweckt, die in bisweilen klaustrophobisch anmutende Bildkonstellationen hineinwachsen. Ihre aus Figur und Objekten gebauten und fotografierten Bild-Arrangements erinnern skurril an Höhlen oder Baumhütten der Kindheit, lassen aber auch Bilder von Zuflucht, provisorischen Lagersituationen und notdürftigen Behausungen aufsteigen.            

KATHARINA SIEVERDING

Der monumentale Stauffenberg-Block von Katharina Sieverding (*1944 Prag) aus dem Jahr 1969 ist ein zentrales Werk experimenteller Fotokunst im 20. Jahrhundert. In einer Zeit, in der sowohl abstrakte als auch konventionell narrative Fotografieformen es kaum schafften, Kunstanspruch zu behaupten, konfrontiert die damals 25-jährige Beuys-Schülerin die Kunstwelt mit konzeptueller Radikalität und purer Irritation. Was sie zeigt ist eine unvergleichliche Mischung aus schon damals strotzend künstlerischem Selbstbewusstsein und tiefster Nachdenklichkeit – eine Verbindung, die ihre künstlerische Arbeit bis heute kennzeichnet. Feuerrot, überlebensgroß und geradezu magisch den Blick des Betrachters fixierend wie umgekehrt auf sich ziehend, erscheint das durch Solarisation, Rotfilter und extreme Vergrößerung verfremdete serielle Selbstporträt der Künstlerin als fragendes Echo der eigenen Geschichte, wie zugleich derjenigen der deutschen Nachkriegsgesellschaft und deren Entwicklung. In Sieverdings weiteren Werken, Die Sonne um Mitternacht schauen III/196 07 A (1973) und Transformer (1973/74) – hier beide in eigens von der Künstlerin für die Ausstellung produzierten Fassungen vertreten –, werden Machtverhältnisse und schon früh die Auseinandersetzung mit Geschlechteridentitäten thematisiert. In dieser Konzentration von Schlüsselwerken zeigt sich die politisch wie ästhetisch hochrelevante Stellung einer Künstlerin, deren Schaffen durch die Jahrzehnte hindurch an visueller Kraft wie gesellschaftlicher Aktualität bis heute nichts eingebüßt hat.